Leseprobe

 

Zufrieden, dass soweit alles geklärt war, suchten sich Jessie und Jonas ein Restaurant und liessen ein fürstliches Essen auffahren. Während sie assen, sagte Jonas beiläufig, "Du hast mir nie erzählt, wo eigentlich Deine Flucht begonnen hat, wie es dazu kam und was davor geschehen ist. Oder willst Du mir immer noch sagen, dass Du einfach gegangen bist, weil ihr euch nicht mehr verstanden habt? Warum ist er so erbittert hinter Dir her? Nur wegen dem Geld und den Dokumenten?"

Jessie's hübsch geschwungene Augenbrauen schienen sich in der Mitte zu treffen, als sie die Stirn runzelte und ihr Blick signalisierte kühle Ablehnung. "Es ist vorbei, Jonas, lass es ruhen."

"Jessie", sagte Jonas eindringlich, ohne auf ihre Warnsignale zu achten, "Du hast mir Dein früheres Leben erzählt, ich habe Dir meins erzählt, ich weiss, dass Gyorgy krumme Geschäfte macht und wir beide sind jetzt ein Paar. Warum kannst Du es mir nicht erzählen? Hast Du kein Vertrauen zu mir?"

"Sind wir das, ein Paar?", fragte sie schroff, ohne auf seine Frage einzugehen. Sie konnte und wollte es ihm nicht erzählen. Nicht das. Es würde alles kaputtmachen.

Jessie sah den Schmerz in Jonas' Augen. Sie hätte sich in diesem Moment auf die Zunge beissen können. Jonas war das Beste, was ihr seit Jahren passiert war. Warum musste sie so reagieren? Sie legte ihre Hand auf Jonas' Hand, "Verzeih mir, ich wollte Dich nicht verletzen. Und ich will Dich nicht in die ganze Sache mit hineinziehen."

Jonas zog seine Hand weg, "Du willst was nicht?", fragte er erregt und etwas lauter als er eigentlich wollte. "Ich habe mir eine Waffe besorgt, ich war bereit für Dich zu töten und ich hätte beinahe für Dich getötet und Du sagst, Du willst mich nicht in die Sache mit hineinziehen? Ich bin mitten drin, Jessie!"

"Ich habe Dir nicht gesagt, dass Du das tun solltest. Ich wäre schon irgendwie aus der Sache rausgekommen. Ich glaube nicht, dass sie mir wirklich was getan hätten", erwiderte sie ernst.

Jonas war verzweifelt und er verstand Jessie nicht mehr, "Sie hätten Dich vielleicht nicht getötet, aber was glaubst Du, was Pablo mit Dir gemacht hätte, wenn Gyorgy mit seiner Rache an Dir fertig gewesen wäre? Ist Dir das völlig egal?"

Jetzt wusste Jessie selbst nicht mehr, was mit ihr los war, was in sie gefahren war und doch machte sie weiter, "Ich habe in meinem Leben schon schlimmeres erlebt", ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

"Oh Gott, Jessie." Jonas stützte seinen Kopf in beide Hände. Er war schockiert und sprachlos.

Jessie lehnte sich im Stuhl zurück, blickte auf ihren Teller und sah ihn doch nicht, 'Was ist los mit mir?', dachte sie. Und noch während sie das dachte, wusste sie plötzlich, warum. Sie hatte Angst, dass sie Jonas verlieren würde, wenn er den Rest auch noch erführe. Sie hatte sich geschworen, es ihm nie zu erzählen. Aber würde sie ihn nicht auch verlieren, wenn sie jetzt so weiter machte? Sollte sie ihm eine Lüge auftischen? Aber was wäre, wenn er alles wüsste und doch mit ihr zusammenbleiben wollte? Wollte sie das? Eine Beziehung, vielleicht ein Leben mit ihm, eine Familie mit ihm? War sie bereit für sowas? Sie kannten sich eine Woche. 'Was ist mit unserem Schicksal?', schoss ihr durch den Kopf. Was, wenn er es sich anders überlegte? Was würde dann aus ihr werden, nachdem sie jetzt schon ihr Leben an seins gebunden hatte und er sie nicht mehr wollte? Sie wusste, es wäre ihr endgültiger Untergang, ein Rutsch geradewegs in die Hölle. Davor hatte sie Angst. War es da nicht besser, gleich einen Strich darunter zu ziehen? Egal, was mit ihnen bisher gewesen war? Würde sie ihn je vergessen können?

Sie sah zu Jonas und es war ein Schock für sie, zu sehen, dass er weinte. Er weinte um sie. Das wollte sie nicht. Sie wollte ihm nicht wehtun, aber sie hatte es schon getan. Sie hätte sich selbst ohrfeigen können. Sie legte ihre Hand an seine Hand, er hatte den Kopf immer noch in seine Hände gestützt.

"Jonas, bitte….", begann sie, ihre Stimme zitterte.

Jonas hob seinen Kopf und fragte bitter "Warum tust Du das Jessie? Hattest Du nicht versprochen, mir diese Worte niemals zu sagen?"

Sie zuckte die Schultern, "Du hattest mir auch versprochen, für mich da zu sein, aber Du wirst mich trotzdem verlassen, wenn Du alles weisst", sagte sie traurig, "So tut es vielleicht nicht so weh."

"Aber wie kommst Du darauf?", fragte Jonas schockiert, Jessie's Bemerkung schnitt ihm mitten durch's Herz und traf ihn tief in seiner Seele, "Nichts kann so schlimm sein, dass ich auf Dich verzichten würde. Was ist mit unserem Schicksal? Vertraust Du mir so wenig?"

Zweifelnd sah Jessie ihn an. Meinte er es wirklich ernst?

"Du lässt nicht locker, was? Also gut, ich erzähle es Dir. Du wirst Deine Meinung über mich ändern und mich nicht mehr haben wollen." Sie seufzte und murmelte dabei, "Oh Gott, steh mir bei." Sie war aschfahl geworden und Jonas sah sie besorgt an. Trotzdem blickte sie ihm jetzt fest in die Augen, wollte seine Reaktionen sehen auf das, was sie ihm erzählen würde.

"Ich brauchte Geld, meine Ersparnisse waren aufgebraucht", begann sie stockend, "Ich war aber noch nicht bereit, nach Deutschland zurückzukehren. Was ich bei kleinen Nebenjobs verdiente, reichte nicht. Ich fing in einem Striplokal auf dem Festland nahe Thassos an. Zuerst habe ich nur serviert, auch Gäste animiert. Dann wollte mich der Besitzer dazu überreden, auch zu strippen, an einer Stange zu tanzen. Ich könnte da das Doppelte verdienen und die Männer, die drumrum stehen, würden mir noch Geldscheine zustecken. Mehr sollte nicht sein. Nach einiger Zeit, in der er mich immer wieder drängte, sagte ich wegen des Geldes, ja. Ich dachte, wenn ich etwas davon sparen könnte, könnte ich in ein paar Wochen weiterziehen. Gott, war ich naiv. Obwohl ich ja nicht prüde bin, hatte ich aber doch einige Probleme, mich so schamlos zur Schau zu stellen. Und nach den Auftritten musste ich mich auch noch von Männern einladen lassen. Ich habe in dieser Zeit ziemlich viel Alkohol getrunken, sonst hätte ich wohl nicht durchgehalten. Es ging ein paar Wochen und ich habe ganz gut verdient. Von einer anderen Stripperin erfuhr ich dann, dass sie gezwungen wurde, auch mit Männern mitzugehen. Da mich aber bis dahin keiner darauf angesprochen oder belästigt hatte, glaubte ich es nicht. Zwei Wochen später rief mich der Besitzer in sein Büro. Erst sagte er, dass er zufrieden mit mir wäre. Dann erklärte er mir, dass er von mir erwartete, dass ich mit Männern mitgehen sollte, die er aussuchen würde, beziehungsweise er würde mich zu bestimmten Kunden bringen lassen. Mir war schon klar, was ich mit den Männern machen sollte und habe das natürlich abgelehnt. Er schlug mich und als ich schon am Boden liegend weinte und schrie, dass ich das nicht mache, hat er mich vergewaltigt. Von da ab war immer jemand in meiner Nähe und passte auf, dass ich nicht abhaute. Meine Papiere hat er mir abgenommen. Er hat mir eine Woche Zeit gelassen, dann wollte er mich unter Bewachung zu einem Kunden bringen lassen und hat mir befohlen, dass zu tun, was der Mann wollte oder die Szene von voriger Woche würde sich wiederholen, nur würde er alle seine Angestellten zum Mitmachen einladen. Mir blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen."

Sie machte eine Pause, sah den entsetzten Blick in Jonas' Augen.

"Vier Wochen später sah ich zum ersten Mal Gyorgy in das Lokal kommen. Danach kam er öfter. Er war charmant und sah gut aus, hat mir immer Geld zugesteckt. Aber mit ihm musste ich nie mitgehen. Ich hielt ihn für einen ganz normalen Kunden. Komischerweise musste ich in dieser Zeit zu niemand anderem gehen. Eines Tages fragte er mich, ob er mir nicht helfen solle, aus diesem Laden rauszukommen, er würde sich um mich kümmern und ich sagte ja. Mir war eigentlich alles recht, nur um da rauszukommen. Ich äusserte aber die Vermutung, dass mich der Besitzer nicht gehen lassen würde. Das lass mal meine Sorge sein, meinte er. Zwei Tage später hat er mich abgeholt und in sein Haus auf Thassos gebracht. Ich konnte mich frei bewegen, allerdings hatte er meinen Pass und meinen Ausweis behalten. Ansonsten waren wir zusammen wie ein Paar."

Jessie machte wieder eine Pause, beobachtete Jonas, sah sein ernstes Gesicht, seine schmerzerfüllten, feucht schimmernden Augen und wusste, sie hatte ihn verloren. 'Aber was soll's', dachte sie verbittert, 'Jetzt kann ich ihm den Rest auch noch erzählen.'

"Einen Tag, bevor wir uns getroffen haben, sass ich in Gyorgy's Haus im Wohnzimmer in einem Sessel mit hoher Lehne und war von der Tür her dadurch nicht zu sehen. Gyorgy kam herein, mit Pablo im Schlepptau. Sie blieben an der Tür stehen und haben mich nicht entdeckt. Dann sprachen sie über Geschäfte, bestimmte Geschäfte. Prostitution, Drogen, Schutzgelderpressung, Bestechung, Wettbetrügereien und was weiss ich nicht noch alles. Und er sprach auch davon, dass er von dem Striplokal, aus dem er mich herausgeholt hatte, drei Mädchen für eines seiner Bordelle gekauft hätte. Und von einem anderen Striplokal Mädchen eingekauft und sie an Zuhälter weiter verhökert hatte. Er sprach von ihnen wie von einer Ware. Da war mir klar, dass das auch mein Ende gewesen wäre, hätte ich ihm nicht so gut gefallen, dass er mich für sich alleine haben wollte. Und mir war ebenfalls klar, dass er mich genauso gekauft hatte. Ich habe gewartet, bis Pablo gegangen war, bin auf ihn zugesprungen, habe ihn angeschrien, beschimpft, geohrfeigt, gekratzt und getreten, ja sogar angespuckt. Aber er war stärker als ich und dann hat er mich vergewaltigt, obwohl ich mich heftig gewehrt habe. Hat mir gedroht, mich ebenfalls wieder zu verkaufen, wenn ich ihm nicht gehorche. Ich habe die Nacht im Wohnzimmer auf der Couch verbracht und als Gyorgy am nächsten Morgen das Haus verlassen hatte, habe ich meine Papiere gesucht und dabei noch diese Dokumente und das Geld gefunden. Er hatte mich eingeschlossen, aber ich konnte durch das sehr kleine Fenster der Gästetoilette klettern und entkommen. Dann bin ich zum Hafen und habe den nächstbesten Dolphin genommen."

Erschöpft vom Erzählen hielt Jessie inne, nahm ihr Weinglas und trank einen Schluck. Ihr Herz und ihre Seele taten ihr weh.

"Jetzt weißt Du alles, wirklich alles", sagte sie leise, ohne Jonas anzusehen, "Vielleicht sollte ich gleich hierbleiben, Du schaffst es auch alleine morgen nach Korfu. Ich schlage mich schon durch", ihre Unterlippe und ihr Kinn zitterten und bebten und sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.

Jonas hatte seinen Kopf schon längst von seinen Händen genommen. Bestürzt hatte er Jessie während ihrer Erzählung angesehen. Er ahnte, was in ihr vorging, welche Gefühle in ihr wüteten, wie verletzt und gedemütigt sie war, warum sie auch offenbar kein Vertrauen zu ihm hatte und welche Überwindung es sie gekostet haben musste, ihm das alles zu erzählen. Jetzt war ihm auch ihr Albtraum vor einigen Tagen klar. Sie hatte die Vergewaltigungen wieder im Traum erlebt. Unsagbarer Schmerz erfüllte seine Brust. Und seine Wut auf Gyorgy war erneut aufgeflammt, heftiger noch als je zuvor. Und in diesem Moment schwor er sich, Gyorgy für all die Gewalt, Schmerzen und Demütigungen, die er Jessie erleiden liess, büssen zu lassen. Jonas beugte sich über den Tisch, nahm Jessie's blasses Gesicht in seine Hände und hob es ihm entgegen, so dass sie ihn ansehen musste. Er spürte, dass sie am ganzen Körper zitterte.

"Jessie, liebst Du mich?", fragte er und Jessie war über die Sanftheit und Zärtlichkeit in seiner Stimme überrascht. Es war eine für sie unerwartete Reaktion von Jonas und Tränen standen in ihren Augen, als sie nickte.

"Dann ist das alles nicht wichtig", sagte Jonas leise, "Lass es hinter Dir, versuche, es zu vergessen, fang neu an. Mit mir. Bitte. Ich liebe Dich Jessie. Du kannst doch nichts dafür. Du bist gezwungen worden. Es ist doch nicht Deine Schuld. Ich bitte Dich, mir zu vertrauen, auch wenn es Dir schwerfällt."

Diese Worte von Jonas öffneten Schleusen in Jessie. Ungläubig starrte sie ihn an und ihre Gefühle überwältigten sie. Sie begann heftig zu weinen. Alles, was sie bisher runtergeschluckt hatte, brach nun aus ihr heraus. Jonas, der ihr gegenüber gesessen hatte, rückte seinen Stuhl herum und nahm Jessie in die Arme. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schluchzte herzzerreissend. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie, immer noch schluchzend, ihren Kopf hob und Jonas anschaute. Er nahm in Ermangelung eines Taschentuches seine Serviette und betupfte ihre Augen. Einige andere Gäste hatten sich neugierig zu ihnen umgedreht, aber Jonas hatte ihnen mit einer ungeduldigen und warnenden Geste klargemacht, dass sie sich um ihren eigenen Kram kümmern sollten.

"Du schickst mich nicht fort?", fragte Jessie unter Tränen und Schluchzern.

"Nein, Jessie, wie könnte ich. Ich würde mein Leben zerstören." "Und Deines vielleicht auch", fügte er noch leise hinzu.

Wieder schluchzte sie, schlang ihre Arme um seinen Nacken und legte ihre Stirn an seine. Sie zitterte immer noch, aber ihr Gesicht bekam langsam wieder Farbe.

"Willst Du bei mir bleiben?", fragte Jonas, durchaus noch nicht sicher, ob sie zustimmen würde. Ihr Schluchzen wurde weniger bis sie sich schliesslich zu einem schwachen Lächeln durchrang.

"Ja Jonas, wenn Du mich immer noch willst."

"Okay", sagte er zärtlich und streichelte ihre Wange, "Dann überstehen wir das gemeinsam."

Es war schon ziemlich spät, als sie das Restaurant verliessen. Jonas hatte immer wieder seine Liebe zu Jessie beteuert und jedesmal hatte sie wieder angefangen zu weinen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals solch einen Gefühlssturm in sich erlebt zu haben. Wut, Trauer, Angst und Hilflosigkeit über das schlimme, vergangen Erlebte; aber auch Glück, Liebe, Erleichterung, Geborgenheit und auch Bedauern, Jonas wehgetan zu haben, all diese Gefühle brachen auf einmal über sie geballt herein.

Sie gingen noch eine Weile spazieren um sich zu beruhigen. Beide waren von den Ereignissen sehr aufgewühlt. Arm in Arm liefen sie die Gassen entlang, blieben immer wieder stehen, um sich zu küssen. Einmal blieb Jessie stehen, hielt Jonas zurück. Sie schlang die Arme um ihn, sah hoch zu ihm, "Verzeihst Du mir, dass ich es Dir nicht gleich erzählt habe?", fragte sie leise.

"Es hat mir einen ziemlichen Stich gegeben, dass Du mir nicht vertraut hast, aber ich verstehe Deine Beweggründe. Du kanntest mich noch nicht so gut, um zu wissen, wie ich mit der Wahrheit umgehen würde. Und Du hattest wohl auch keinen Grund, einem Mann, auch mir nicht, zu vertrauen."

"Ich wollte Dich nicht verlieren, Jonas. Ich fürchtete, Du würdest Dich von mir abwenden und wollte Dir deshalb die Wahrheit verschweigen. Als Du dann aber wieder gefragt und gebohrt hast, wusste ich gleichzeitig, dass ich Dir die Wahrheit erzählen musste. Ich hätte nicht mit einer Lüge leben können."

Tröstend strich ihr Jonas über ihre Haare, "Du hast damit gerechnet, dass ich mich von Dir abwenden würde, und doch hast Du es mir erzählt, hast mir keine Lüge hingeworfen. Das zeigt mir doch, dass ich Dich richtig eingeschätzt habe. Du bist eine liebevolle, wunderbare Frau trotz Deiner schlimmen Erfahrungen, Jessie. Ich danke Dir, dass Du diese Geschichte nicht zwischen uns hast stehen lassen. Komm, lass uns zum Schiff zurückgehen", sagte Jonas.

Von Ferne sahen sie viele Leute an der Hafenmauer stehen.

"Da ist was los", meinte Jonas.

Als sie näherkamen, schauten beide entsetzt auf den Liegeplatz ihrer Yacht. Nur noch der Mast guckte aus dem Wasser. Alles andere war unter Wasser. Ihr Schiff war im Hafen gesunken.