Leseprobe

 

1. Kapitel

 

Mexiko, Einundzwanzigstes Jahrhundert, 2008.

Grell dröhnend wie ein Peitschenknall und ohrenbetäubend hallte der Schuss durch die grosse Eingangshalle des pompösen Herrenhauses. Mehr beschwörend als abwehrend oder ergebener Geste hatte Christopher die Hände erhoben. Als die Kugel ihn traf, fielen seine Arme einfach runter, er taumelte rückwärts, seine Beine gaben nach und er stürzte auf den teuren Marmorboden der Eingangshalle.

Sarita stürzte aus dem oberen Stockwerk die breite Treppe hinunter, sah ihren Ehemann am Boden liegen.

"Papa, cuáles son usted hecho?", "Papa, was hast Du getan?", ihre Stimme überschlug sich.

Sie kniete sich neben ihren Mann, "Christopher, Christopher, hörst Du mich?"

Sie sah, wie sich der blutrote Fleck um das Loch in seinem Hemd auf der linken Brustseite rasend schnell ausbreitete. Sie hielt ihr Ohr an seinen Mund und vermeinte, schwache Atemzüge zu vernehmen. Sie nahm ihr Handy und wählte eine Nummer.

"Rápidamente, necesito ayuda", "Schnell, ich brauche Hilfe."

Sarita nannte ihren Namen und Adresse und legte das Handy beiseite, dann sprang sie auf, holte ein Kissen und schob es Christopher unter den Kopf.

Vorwurfsvoll, mit temperamentvoll funkelnden Augen sah sie ihren Vater an, "Was auch immer er vielleicht getan hat, das hättest Du nicht tun dürfen", schrie sie ihn an, "Er ist mein Mann und der Vater Deiner Enkel."

Bestürzt stand Amadeo Alvarez da, die Hand mit der noch immer rauchenden Waffe hatte er sinken lassen. Nein, er mochte seinen deutschen Schwiegersohn nicht. Seine Tochter Sarita hätte seiner Meinung nach einen besseren Mann verdient. Besser hiess für ihn allerdings, härter, aber auch gehorsamer und loyaler gegenüber seinem Schwiegervater und dessen Familie. Auch nicht so zimperlich und gesetzestreu. Und natürlich Mexikaner und kein Ausländer. Er passte einfach nicht in diese Familie. Er war ein Weichei. Aber er wollte ihn nicht erschiessen. Wollte ihn eigentlich nur einschüchtern. Dieser sonst so sanfte Kerl hatte doch aber tasächlich den Mut gehabt, seinem äusserst wohlhabenen und einflussreichen Schwiegervater die Stirn zu bieten. Hatte ihm gedroht, sich an die Polizei zu wenden, wenn er ihn nicht in Ruhe lassen würde. Nun, die Polizei war eigentlich kein Thema für Amadeo Alvarez, da hatte er seine Leute, aber als sein Schwiegersohn gedroht hatte, mit Sarita und den Kindern zusammen nach Deutschland zurückzukehren und wenn sie das nicht wollte, sich scheiden zu lassen und alleine zurückzukehren, da war das Temperament mit ihm durchgegangen. Er hatte in blinder Wut seine Waffe gezogen und bevor sein Sohn Diego es verhindern konnte, hatte er auch schon abgedrückt. Scheidung. In Mexiko. In gesellschaftlich angesehenen Kreisen. Ganz unmöglich. Und dass seine Tochter und seine Enkel dieser Memme nach Deutschland gefolgt wären, war ebenfalls völlig unmöglich. Seine und die Ehre seiner Familie wäre befleckt gewesen. Seine Gegner hätten über ihn gelacht und es ihm als Schwäche ausgelegt, hätten versucht diese Schwäche auszunutzen um ihn aus verschiedenen Geschäften zu drängen.

Auch Diego hatte wie erstarrt dagestanden, nun aber sprang er zu seinem Vater und entwandt ihm die Waffe. Unterdessen hatte Sarita ihr T-Shirt ausgezogen, Christopher's Hemd aufgeknöpft und das T-Shirt auf die Schusswunde gepresst, um zu verhindern, dass noch mehr Blut rausfloss. Sirenen, die schnell näher kamen, waren jetzt zu hören. Wenn ein Mitglied der Familie Alvarez anrief, spurte eben jeder. Kurz darauf sprinteten Notarzt und mehrere Sanitäter herein und begannen Christopher zu versorgen.

Sarita ging auf ihren Vater zu, ihre blutverschmierten Hände nach vorne anklagend ausgestreckt, die Handflächen nach oben. "Warum hast Du das getan?", fragte sie mit bebender Stimme, Tränen der Trauer und der Wut in ihren Augen. Sie hatte zwar das Temperament ihres Vaters geerbt, aber nicht dessen Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit. Sie war so warmherzig und fürsorglich, wie es ihre Mutter gewesen war. Sie begann eine Nummer in ihr Handy zu tippen, welches sie wieder aufgehoben hatte.

"Er hat gedroht, sich von Dir scheiden zu lassen", antwortete Amadeo Alvarez in diesem Moment fast tonlos.

Sarita hielt beim Tippen inne, drehte sich zu ihrem Bruder, "Ist das wahr?", fragte sie ihn ungläubig. Diego nickte nur, ging auf seine Schwester zu und legte ihr sein Jackett über die nackten Schultern, denn Sarita stand jetzt nur in enganliegenden Jeans und BH vor ihm. Er schluckte, versuchte, den Blick von ihr zu wenden. Sie war eine schwarzhaarige Schönheit, mit schlanker Figur trotz zweier Kinder und glutvollen, dunklen Augen. Obwohl er ja ihr Bruder war, genoss Diego immer wieder ihren Anblick.

"Und was war der Drohung vorausgegangen? Worüber habt ihr gesprochen?", fragte Sarita erregt.

Amadeo nahm ihr das Handy aus der Hand. Angewidert betrachtete er das Blut an dem Handy. Er hatte sich wieder gefangen und musste jetzt Schadensbegrenzung betreiben.

"Hör' zu, Sarita. Ich habe ihm vorgeworfen, dass er mit einer anderen Angestellten seiner Firma ein Verhältnis hat und er hat gedroht, sich scheiden zu lassen, wenn ich es Dir erzähle. Da bin ich durchgedreht."

"Christopher, ein Verhältnis?", fragte Sarita ungläubig, die funkelnden Augen misstrauisch zusammengekniffen, "Das glaube ich nicht, auch nicht, dass er sich scheiden lassen würde. Ich weiss, wir haben zur Zeit einige Probleme, aber er liebt mich und unsere Kinder und würde uns nicht alleine lassen. Woher glaubst Du das zu wissen?"

"Ich habe ihn beobachten lassen", antwortete ihr Vater schnell und bemühte sich, seiner Stimme einen besorgten Klang zu geben, hoffend, dass Sarita diese schamlose Lüge nicht heraushörte, "Weil ich eine Ahnung hatte."

Sarita schüttelte zweifelnd den Kopf. Sie riss ihrem Vater wieder ihr Handy aus der Hand und wählte erneut.

"Kommissar Gonzales? Sarita Alvarez hier. Wir brauchen Sie. Können Sie so schnell kommen, wie es geht? Mein Mann ist verletzt worden und ich fahre mit ihm in die Klinik in Mexiko Stadt. Mein Vater und mein Bruder werden Ihnen erzählen, worum es geht. Wenn Sie es wünschen, treffen Sie mich im Krankenhaus."

Die Sanitäter hatten Christopher auf eine Trage gehoben und waren dabei, ihn zum Ambulanzwagen zu bringen.

Nach den ersten Schritten drehte sich Sarita noch einmal um, streckte anklagend ihren Arm in Richtung ihres Vaters aus, mit ausgestrecktem Zeigefinger, "Erzähl ihm, was Du ihm erzählen musst. Wenn Du mir gegenüber aber weiter bei Deiner Lügenversion bleibst, sollten wir ein ernstes Wort miteinander reden. So kommst Du mir nicht davon."

Mit diesen Worten lief sie hinter den Sanitätern her und nahm im Ambulanzwagen auf dem Sitz neben Christopher's Trage Platz.

Während der Ambulanzwagen durch die Strassen raste, versuchte Sarita ihre Gedanken zu ordnen. Christopher und sie hatten in der letzten Zeit häufig Meinungsverschiedenheiten, ja sogar Streits gehabt. Aber wenn sie darüber nachdachte, hingen alle mit ihrem Vater zusammen. Sie war sich sicher, dass Christopher sie noch liebte, ebenso seine Kinder. Sie liebte ihn doch auch. Nein, sie glaubte ihrem Vater nicht. Sie wusste, ihr Vater wollte Christopher in seine Geschäfte reinziehen, was immer das für Geschäfte sein mochten. Sarita hatte sich nie für seine Geschäfte interessiert und Christopher war nie daran interessiert gewesen, mit ihrem Vater zusammenzuarbeiten. Es war ihm schon ein Greuel, mit ihr in seinem Palast zu wohnen. Er hätte für seine Familie lieber was Eigenes gesucht oder erschaffen. Und er war gerne bei seiner deutschen Firma. Aber was hier wirklich geschehen war, konnte nur Christopher selbst sagen. Und Sarita betete, dass Christopher irgendwann wieder in der Lage wäre, zu erklären, was vorgefallen war.

Der Ambulanzwagen erreichte die Klinik. Christopher wurde ausgeladen und eilig sofort in den OP geschoben. Bevor das Operationsteam den OP erreichte, hatte Sarita schon alle Hebel in Bewegung gesetzt, den Chefarzt zu sprechen. Sie brauchte gar nichts weiter tun, als ihren Namen zu nennen und dass der Eingelieferte ihr Ehemann war. Alle würden ihr Bestes geben, Christopher zu retten.

Sie sass im Warteraum der Klinik und hatte den Kopf in ihre Hände gestützt. Sie verstand immer noch nicht. Ihr Bruder hatte bestätigt, dass Christopher mit Scheidung gedroht hatte. Aber warum? Sie dachte an Christopher. Sechs Jahre kannten sie sich nun, fünf davon waren sie verheiratet. Vier und zwei Jahre waren ihre Kinder, Marcos und Cristina, die sie beide abgöttisch liebten. Nie würde Christopher freiwillig auf sie verzichten. Sie war Christopher damals bei einem Ausritt ausserhalb der Stadt das erste Mal begegnet. Mit ihm zusammen ritt ein Bekannter ihres Bruders, den auch sie durch ihren Bruder etwas kannte und der auch bei Christopher in der Firma arbeitete. Dieser Bekannte hatte sie einander vorgestellt. Dieser grosse, blonde, gutaussehende Mann hatte sie irgendwie sofort fasziniert. Und beide hatten sich nach dem Abschied noch einmal umgedreht, als sie getrennt weiterritten. Es hatte jedoch einige Zeit gedauert, bis sie sich wieder begegneten. Nur zögernd hatte sie seine Einladung zum Essen angenommen. Aber sie war nicht gebunden gewesen und so hatte sie zugesagt. Christopher hatte erst ein Jahr zuvor beim mexikanischen Standort der deutschen Firma angefangen. Das war 2001 gewesen. Sein spanisch war noch nicht so gut, aber er bemühte sich. Sie kannte sich aus mit mexikanischen Männern. Achtzig Prozent waren gnadenlose Machos. Umsomehr überraschte sie dieser Deutsche. Charmant und überaus sanft und zuvorkommend. Respektvoll gegenüber allen weiblichen Wesen, nie herablassend oder anzüglich. Auch sein Humor war nicht so hart und so vulgär wie manchmal bei vielen mexikanischen Männern. Er war locker in der Unterhaltung und jeder mochte ihn. Das hatte ihr imponiert. Von da an sahen sie sich öfter. Sie war sich bewusst gewesen, dass ihr Vater Schwierigkeiten machen würde, aber sie hatte sich in diesen Mann verliebt, der soviel zärtlicher war als die meisten mexikanischen Männer. Ihr 'sanfter Riese' nannte sie ihn, denn er war knapp einsneunzig. Mexikaner hingegen waren normalerweise unterdurchschnittlich gross, wenn man europäische Massstäbe anlegte. Nun, ihm war wohl nicht bewusst gewesen, dass es sowas wie ein Eheversprechen war, wenn man in Mexiko zusammen im Bett landete. Trotzdem war sie damals keine Jungfrau mehr, sie war immerhin vierundzwanzig gewesen und kannte auch temperamentvolle, mexikanische Männer. Beim ersten Mal hatte sie jedoch gemerkt, dass er nicht nur sanft sein konnte, sondern auch sehr leidenschaftlich und es war um sie geschehen. Ihr Vater war damals sehr erzürnt gewesen, hatte aber letzten Endes zähneknirschend einer Heirat zugestimmt. Erst als Marcos geboren wurde, beruhigte er sich und als Cristina geboren wurde, schien es, als hätte er seinen Schwiegersohn endlich akzeptiert. Deswegen wohl wollte auch ihr Vater, dass Christopher bei der deutschen Firma kündigte und in die Geschäfte seines Schwiegervaters einstieg. Aber Christopher weigerte sich beharrlich, was zu häufigen Streits führte und zuletzt auch ihre Ehe und Liebe belastet hatte. Aber dass er ein Verhältnis in seiner Firma haben sollte, nein, das glaubte sie nicht, das sah ihm nicht ähnlich. Sie war zwar nicht so zart besaitet, aber nun liefen ihr doch einige Tränen die Wangen runter. Sie schluckte einen letzten Schluchzer hinunter, seufzte und ergab sich ihrem wartenden Schicksal.

Nach drei Stunden kam der Chefarzt auf sie zu. Er nickte ihr freundlich zu, "Wir konnten ihn retten, haben ihn zurückgeholt, als es fast schon zu spät war und die Kugel aus ihm rausgeholt, aber er ist noch nicht über dem Berg. Er hat aufgrund des hohen Blutverlustes einen Schock erlitten. Das Schlimme ist, dass bei einem Schockzustand das Immunsystem auf breiter Front zusammenbricht. Wir haben Ihren Mann deshalb in ein künstliches Koma versetzt. Wir hoffen nun, dass er nicht noch eine Sepsis erleidet. Ob er es schafft, werden die nächsten vier-undzwanzig Stunden zeigen. Wie ist es passiert?"

Bedauernd zuckte Sarita mit den Schultern, "Ich weiss es nicht genau. Ich bin erst dazugekommen, als es schon geschehen war. Vermutlich ein Unfall. Kommissar Gonzales untersucht den Fall und wird vermutlich bald hier eintreffen. Kann ich zu meinem Mann?"

"Können Sie, wenn Sie wollen, aber nur kurz, ausserdem ist er sowieso nicht ansprechbar."

Der Chefarzt brachte sie zur Intensivstation, zu dem Raum, in welchem Christopher untergebracht war. Nachdem sich Sarita Schutzkleidung übergezogen hatte, setzte sie sich zu Christopher auf die Bettkante. Er war ein Schatten seiner Selbst, sehr blass, atmete sehr flach, aber er war noch am Leben. Tränen traten ihr nun wieder in die Augen, als sie seine Wange streichelte, "Ach Christopher, was hast Du getan oder gesagt, dass mein Vater so sehr ausgerastet ist. Warum kommt ihr nicht miteinander aus? Ich will Dich doch nicht verlieren."

Christopher's Augenlider flatterten unruhig, als wenn er jeden Moment aufwachen würde. Auch sah Sarita, dass sich seine Lippen bewegten, als wenn er was sagen wollte und seine Finger bewegten sich. Schweisstropfen traten auf seine Stirn. Aber er war doch im Koma. Wie war das möglich?