Leseprobe

 

Es war Freitag und der Tag von Mandy's Entlassung aus dem Krankenhaus. Seit Montag war der Gips ab und Mandy hatte viele Stunden Krankengymnastik hinter sich, um ihren einzigen Arm wieder gebrauchsfähig zu machen. Jeden Nachmittag war Marko bei ihr gewesen und beide hatten es genossen, dass sie Hand in Hand spazieren gehen konnten. Mandy konnte in Marko's Haaren wuscheln, streichelte über sein Gesicht und über seinen Körper. Es bedeutete ihr viel, aktiv Zärtlichkeiten auszutauschen, nicht nur hinzunehmen und zu geniessen sowie Marko's Kopf zu sich herunterzuziehen um ihn zu küssen. Es gab trotzdem noch viele Dinge zu helfen, die mit einer Hand schwierig bis unmöglich zu bewältigen waren. Mandy hatte ihre Fröhlichkeit wiedergefunden, wenn sie auch noch oft mit Trauer an ihre Oma dachte. Die Beerdigung hatte schon stattgefunden und Mandy konnte selbst einen Strauss Rosen auf's Grab legen.

Nach der Aussprache mit seinem Vater verstand sich Marko mit ihm besser als je zuvor. Auch stellte er befriedigt fest, dass sich seine Mutter und sein Vater wieder viel besser verstanden als früher. Marko hatte sich wieder zu einem lebensfrohen, jungen Mann gewandelt, der trotz aller Lebensfreude auch sehr ernst und gefühlvoll sein konnte.

Er holte Mandy ab und auch er bedankte sich bei Doc Anselm für alles und besonders, dass er ihn mit Mandy zusammengebracht hatte. Er wusste ja bis heute nicht, dass eigentlich Mandy dazu ausgesucht wurde Marko zu helfen statt umgekehrt. Und Mandy hatte sich geschworen, es ihm auch nie zu beichten.

Als sie dann bei Christiane und Achim ankamen, stellte Mandy erfreut fest, dass alles in ihrem neuen Zimmer so eingerichtet war, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie umarmte Christiane und Achim wie eine heimgekehrte Tochter, gab auch Achim einen herzhaften Kuss auf seine Wange. Gerührt wischte Achim sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Mandy räumte ihre Toilettenartikel in's Bad und ihre Sachen in die Schränke. Bis zum Mittagessen blieben Mandy und Marko allein in Mandy's Zimmer. Sie schmusten und küssten sich. Anfangs schien Marko in Jamie's altem Zimmer etwas gehemmt, aber Mandy versuchte gar nicht erst, das Thema Jamie totzuschweigen oder zu vermeiden. Ganz ungehemmt redete sie über Jamie, über ihre Sachen in dem Zimmer und was sie in diesem Zimmer fühlte. Sie bemerkte, wie Marko sich langsam entspannte.

Später meinte er dann, "Du, ich wollte mir eigentlich schon lange einen neuen Computer kaufen. Was hältst Du davon, wenn ich den alten neu konfiguriere und ihn Dir hier anschliesse. Entsprechende Software, die Du benötigst, beschaffe ich dann schon."

"Du musst wohl erst noch die Datei mit Deinen früheren Freundinnen löschen, was?", fragte Mandy lachend, "Aber das wäre ganz lieb von Dir. Du kannst Dir einen neuen Computer leisten?"

"Ja. Mein Vater ist recht grosszügig." Dann sagte er leise, "Er ist von dem Schlag, der meint, damit Liebe erkaufen und Gefühle damit ersetzen zu können."

"Du hast Probleme mit ihm, stimmts?", fragte Mandy besorgt.

"Na ja, seit kurzem steht etwas ziemlich Schlimmes zwischen uns, obwohl wir uns ausgesprochen haben. Aber ich möchte jetzt nicht darüber reden. Vielleicht erzähle ich es Dir später mal."

Zum Mittagessen waren sie alle fröhlich, schienen sich wie eine Familie zu fühlen. Danach spielten sie. Am frühen Abend verabschiedete sich Marko und flüsterte Mandy in's Ohr, "Gehst Du mit mir morgen in's Kino? Es gibt einen neuen Liebesfilm."

"Gern", Mandy's Augen strahlten Marko so liebevoll an, dass ihm ein wohliger, angenehmer Schauer über den Rücken lief.

"Ich hole Dich morgen ab", sein Mund war so nahe an Mandy's Ohr, dass es kitzelte und sie kicherte, als Marko mit seinen Lippen an ihrem Ohrläppchen zupfte, was ihr eine angenehme Gänsehaut bescherte.

Abends sassen Mandy, Christiane und Achim im Wohnzimmer zusammen. Mandy und Christiane unterhielten sich leise, während Achim fern sah, sich aber ab und zu an der Unterhaltung beteiligte. Mandy erzählte viel aus ihrem Leben und Christiane erzählte von Jamie. Wieder einmal stellte Mandy viele Gemeinsamkeiten fest.

Mandy war irgendwie aufgeregt, als es Zeit war, schlafen zu gehen. Die erste Nacht in ihrem neuen Zuhause. Sie wünschte Christiane und Achim mit einem Küsschen eine gute Nacht und schlüpfte in ihr Bett. Sie konnte lange Zeit nicht einschlafen. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um diesen Tag, um ihre Gespräche mit Christiane über Jamie. Mit einem Lächeln dachte sie dann an Marko und schlief schliesslich doch ein.

Mandy träumte. Sie träumte, dass sie ganz alleine einen Waldweg entlang lief. Plötzlich sah sie eine Gestalt vor sich und sie erkannte Jamie. Sie sah aus wie auf dem Bild im Wohnzimmer, hatte jedoch Jeans und ein rotes Rollkragenshirt an. Mandy bekam Angst, sie fürchtete, Jamie wäre ihr böse, weil sie sich in ihr Leben gedrängt hatte, ihr Marko und die Eltern weggenommen hatte und blieb deshalb in einiger Entfernung stehen. Nun kam Jamie auf sie zu. Mandy wollte weglaufen, konnte sich jedoch nicht bewegen. Doch Jamie sah gar nicht böse aus, sondern sah sie aus eigenartig blau leuchtenden Augen freundlich an.

Mit merkwürdig glockenheller Stimme sagte Jamie sanft zu ihr, "Ich danke Dir, dass Du Dich Marko's und meiner Eltern angenommen hast. Marko wäre schon fast bei mir gewesen, doch ich konnte das nicht zulassen, ich musste ihn immer wieder zurückstossen. Ich weiss, alle drei lieben Dich und ich glaube, ich kann jetzt in Frieden gehen. Alles wird jetzt gut und es ist in Ordnung so, wie es ist. Sie sollen nicht länger traurig sein. Sag ihnen das." Irgendwie verblasste die Gestalt. Mandy ging einen Schritt auf sie zu, merkte, dass sie sich wieder bewegen konnte. Sie streckte ihre Hand aus und es war merkwürdigerweise ihre behinderte Rechte und sie rief, "Jamie, geh nicht. Ich habe doch gar nichts getan. Ich bin doch diejenige, die in Deine Familie einbricht und um die sich alle kümmern." Sie wollte Jamie berühren, ja, sie in den Arm nehmen und trösten. Aber obwohl die Gestalt real aussah, griff Mandy durch sie hindurch, als sie sie berühren wollte. Jetzt lächelte Jamie sanft, "Doch, Du hast das bewirkt, das alle drei wieder ihren Lebensmut gefunden haben, Du weisst es nur nicht. Es sollte so sein", und sie bewegte sich auf Mandy zu und hüllte sie ein, wie eine Wolke oder Nebelschwaden. Mandy fürchtete, von eisigem, kaltem Hauch eingeschlossen zu werden, wie man das immer wieder in Geistergeschichten las. Stattdessen breitete sich Wärme, innere Ruhe, Frieden und eine grosse Liebe in ihr aus. Sie fühlte sich auf eigenartige Weise mit Jamie verbunden, wie wenn ein Stück Seele von ihr in sie geschlüpft wäre, ja, sie konnte sie in sich fühlen und auch alles fühlen, was Jamie fühlte. Mandy war eigenartig zumute, so als wenn beide eins wären. Kurz darauf wich das Gefühl, eingehüllt zu sein. Jamie stand wieder vor ihr und fing an, sich von unten her aufzulösen, aber sie lächelte und sagte, "Vertrau mir". Dann war Mandy wieder alleine in dem Wald. Zurück blieben allein diese Gefühle der Wärme, des Friedens und der grossen Liebe.

Dann erwachte Mandy. Sie war schweissgebadet und verwirrt und doch war immer noch dieser Frieden in ihrem Herzen, in ihrer Seele. Sie konnte sich an alles erinnern, was in diesem Traum geschehen war. Kurze Zeit war sie noch wach, unfähig, sich zu bewegen. Dann schlief sie wieder ein und schlief traumlos bis zum Morgen.

Als sie erwachte, war der Traum ihr erster Gedanke. Wie in der Nacht, konnte sie sich an jede Einzelheit erinnern. Und auch jetzt noch spürte sie diese Liebe und alle anderen empfundenen Gefühle in sich. Sie hörte schon Geräusche aus der Küche, stand auf und schlüpfte in das Bad. Sie machte sich fertig, ging in ihr Zimmer und zog sich an.

Während sie das tat, schaute sie immer wieder in den Schrank, in dem ja noch Jamie's Sachen waren. Sie konnte jedoch kein rotes Rollkragenshirt entdecken. Eine Jeans sah sie zwar, sie hatte aber eine etwas andere Farbe, wenn auch blau. Sie schüttelte verständnislos den Kopf und ging dann zu Christiane und Achim, die gerade anfangen wollten zu frühstücken. Fröhlich begrüsste sie sie mit einem Wangenkuss. Beim Frühstück fragte Christiane dann, "Wie hast Du denn geschlafen?", während sie Brötchen aufschnitt und für Mandy beschmierte.

"Gut", erwiderte Mandy, "Mmmmh ……, lecker, Holundergelee. Ich liebe Holundergelee."

Verblüfft und verlegen meinte Christiane, "Jamie hat auch Holundergelee geliebt. Sie war die einzige unter uns, die sowas gegessen hat. Nur ihr zuliebe habe ich ihn immer selber gemacht. Ich habe ihn ganz unbewusst auf's Brötchen geschmiert."

Mandy kicherte, "Auch meine Oma hat ihn nur für mich selbst gekocht. Wir könnten ja mal die Rezepte austauschen," und biss hungrig in ihr Brötchen.

"Mir war, als hörte ich heute Nacht einen Ruf aus Deinem Zimmer. Es hörte sich wie 'Jamie', an, aber ich glaube, da haben mir meine Gedanken einen Streich gespielt", sagte Christiane unsicher.

"Ich habe heute Nacht geträumt", sagte Mandy leise und wieder ernst, "Von Jamie. Ich habe in diesem Traum nach ihr gerufen, es kann also durchaus sein, dass Du Dich nicht verhört hast."

"Du hast von Jamie geträumt?", fragte Achim, "Erzähl mal."

Und Mandy erzählte, was sie geträumt hatte. Alles. Stille war am Tisch. Dann sagte Christiane mit bewegter Stimme, "Es stimmt schon, die Ärzte haben gesagt, es war sehr knapp mit Marko und er hätte ein paar Mal zwischen Leben und Tod geschwankt."

Vorsichtig fragte Mandy, "Welche Augenfarbe hatte Jamie?"

"Ein richtig leuchtendes Blau", sagte Achim fast atemlos.

"Ich hatte das nicht gewusst", sagte Mandy, "Auf dem Foto im Schrank kann man es nicht erkennen. Keiner hat es mir sonst erzählt. Warum habe ich sie mit leuchtend blauen Augen gesehen?" Sie legte ihre Hand auf Christiane's, "Ich habe sie im Traum in einem roten Rollkragenshirt und hellblauen Jeans gesehen, im Schrank aber keines von beiden gefunden."

Jetzt rissen Christiane und auch Achim entsetzt die Augen auf und beide wurde leichenblass. Tonlos sagte dann Christiane, "Das waren die Sachen, die Jamie beim Unfall trug. Die Sachen, in denen sie gestorben ist. Selbst wir wussten es nicht, bis Marko uns das durch Zufall erzählt hatte. Hat er Dir das erzählt?"

"Nein", sagte Mandy und ihre Stimme schien zu versagen, "Warum hätte er das tun sollen."

"Oh mein Gott", flüsterte Christiane und fing an zu weinen.

Mandy nahm sie in die Arme. "Es ist alles gut, ich weiss es, ich spüre es. Es geht ihr gut."

Alle drei waren recht nachdenklich während des Frühstücks. Und alle drei dachten dasselbe.