Leseprobe

 

Die darauffolgenden Tage waren doch etwas bedrückter. Wir redeten über das Thema, aber nie mit einer Entscheidung. Am dritten Tag nach dem Arztbesuch sagte Christiane in einem plötzlichen Entschluss,

"Ich möchte mit Deiner Mutter darüber reden. Es reicht mir nicht, über dieses Thema nur mit Dir oder mit meinen Freundinnen zu sprechen. Ihr seid betroffen und befangen. Ich brauche eine neutrale Zuhörerin und Ratgeberin."

Etwas erschrocken sagte ich, "Was ist denn mit Deiner Tante?"

"Ich hatte nie ein besonders herzliches Verhältnis zu ihr. Sie ist gefühlsmässig eher eine herbe Frau. Sie hat damals akzeptiert was mit mir los war, nachdem sie mit dem Arzt gesprochen hatte und hat mich auch unterstützt. Aber ich glaube nicht, dass sie mir in dieser Situation eine gute Zuhörerin oder gar eine Ratgeberin wäre. Anders sehe ich das bei Deiner Mutter. Sie ist unbefangen und bis auf Dich als mein Partner auch nicht betroffen. Sie könnte Dir zwar nahelegen, Dich von mir zu trennen, wenn sie mit der Tatsache nicht zurechtkommt, aber sie weiss, dass wir uns lieben und glücklich miteinander sind. Sie mag mich, ist eine warmherzige Frau und ich könnte mir vorstellen, dass sie mich versteht."

"Ich würde mich nicht von Dir trennen und ich glaube auch nicht, dass sie mir das nahelegen würde", versicherte ich ihr.

Meine Mutter und Christiane trafen sich häufig, ja häufiger als ich meine Mutter traf. Meine Mutter hatte sie in's Herz geschlossen und sie waren wahre Freundinnen trotz des Altersunterschiedes. Ich konnte mir schon vorstellen, dass meine Mutter Verständnis für Christiane hatte.

"Möchtest Du es alleine machen, oder mit mir zusammen?", fragte ich schliesslich.

Lächelnd über meine Zustimmung sagte sie, "Nun, alleine getraue ich mich nicht anzufangen. Wenn Du mir dabei hilfst, wäre ich Dir sehr dankbar. Danach würde ich aber gerne alleine mit Deiner Mutter reden, sozusagen von Frau zu Frau."

Also rief ich meine Mutter an und fragte sie, wann sie Zeit hätte, wir hätten etwas mit ihr zu besprechen. An meiner Stimme muss sie wohl erkannt haben, dass es sich um ein ernstes Thema handeln musste, sie kannte mich eben.

"Soll ich zu Euch kommen oder wollt ihr hierher kommen?", fragte sie.

Ich sah fragend zu Christiane und fragte leise, "Hier oder bei ihr?"

"Mir wäre hier lieber", entgegnete sie.

"Wenn es Dir nichts ausmacht, Mama, würde ich Dich abholen zu uns. Sonntag, zum Kaffee? Gut, ich hole Dich um vierzehn Uhr dreissig ab."

Ich nahm Christiane in die Arme, "Wir bringen es ihr gemeinsam bei und dann lasse ich euch alleine."

"Du bist ein Schatz", sagte sie und küsste mich, "Ich liebe Dich."

Ich schüttelte leicht den Kopf, "Ich weiss, aber ich Dich mehr", flüsterte ich und eine Woge zärtlicher Liebe schwappte über mich hinweg.

Der Sonntag kam und wir waren beide unglaublich nervös. Auch miteinander kuscheln lenkte uns nicht ab, aber wir nahmen uns immer wieder einfach nur in den Arm.

Ich holte meine Mutter ab, während Christiane die Kaffeetafel vorbereitete. Während der Fahrt sah mich meine Mutter immer wieder von der Seite her an. Ich versuchte, locker über alles mögliche zu reden. Doch meine Mutter ahnte und merkte, dass hier etwas Ernsteres zur Debatte anstand. Einmal fragte sie mich unterwegs, was denn los sei. Ich schüttelte nur den Kopf und sah weg und danach fragte sie nicht mehr. Trotzdem ging die Kaffeezeit relativ locker um. Danach sassen wir alle drei auf der Couch, Christiane in der Mitte. Ich rutschte vor und nahm die Hände meiner Mutter in meine. Christiane hatte sich bei mir eingehakt und hatte die andere Hand auf meinem Schenkel liegen.

Wie sollte ich anfangen? "Mama", sagte ich dann schliesslich, "Du kennst Christiane jetzt etwa ein halbes Jahr. Was empfindest Du für sie?"

Meine Mutter sah mich komisch an und dann Christiane und sagte unsicher, weil sie nicht wusste, was jetzt kam, "Sie ist eine tolle Frau mein Junge, und Du und ich können uns glücklich schätzen, dass es sie gibt. Du weißt, dass ich sie sehr mag und mich freue, dass ihr zusammen seid."

Sie schaute jetzt fragend zu Christiane, weil sie das Ganze nicht verstand. Ich sah wie Tränen über Christiane's Wangen rollten nach den Worten meiner Mutter und meine Mutter sah es auch. Sie war schon jetzt schockiert und ahnte dass da noch mehr kommen sollte.

"Mama", mir versagte fast die Stimme, "Christiane ist ……… anatomisch gesehen eigentlich ein Mann, seelisch und psychisch jedoch eine Frau, wie Du bestimmt auch bestätigen kannst. Sie nimmt unter ärztlicher Aufsicht weibliche Hormone und ist bis auf den kleinen Unterschied auch körperlich schon seit vielen Jahren eine Frau. Sie ist eine sogenannte TransFrau, eine transsexuelle Frau. Wir stehen vor weitreichenden Entscheidungen und werden damit im Moment schlecht fertig. Christiane braucht einen Menschen zum Reden, der nicht betroffen und nicht voreingenommen ist. Ich liebe sie über alles und Du darfst mir getrost glauben, dass ich nicht schwul bin. Ich liebe sie als Frau. Wärest Du bereit mit ihr darüber zu reden und ihr zu helfen für sich eine Entscheidung zu fällen? Von Frau zu Frau? Sie wird Dir ihre ganze Geschichte erzählen."

Während ich ihr dies sagte, liess ich meine Mutter nicht aus den Augen. Der Schock war ihr in's Gesicht geschrieben, sie war blass geworden, der Mund etwas offen und die Augen gross aufgerissen. Sie schien mir sonst immer offen und tolerant zu sein, aber sie gehörte nun mal zur älteren Generation. Mit allen Fesseln der früheren Erziehung. Ich konnte ihr den Schock auch nicht verdenken, war ich doch ebenso schockiert gewesen damals. Sowohl Christiane als auch ich sahen sie ängstlich aber auch bittend an. Es dauerte eine Weile, bis sie tief Luft holte, uns direkt ansah und sagte, "Also gut, ich werde zuhören."

"Mama, Christiane möchte mit Dir alleine darüber sprechen", sagte ich, "Ich werde mich solange zurückziehen."

Ich nahm Christiane in den Arm, gab ihr einen zärtlichen Kuss und strich ihr über die Wange.

"Hab' keine Angst und lass Dir Zeit. Gib mir ein Zeichen über's Handy wenn ihr fertig seid, ja?", sagte ich mit einem Seitenblick auf meine Mutter.

Ich wandte mich zu meiner Mutter und sah, dass ihr Blick jetzt wesentlich weicher geworden war, ja uns beide fast zärtlich ansah, auch hatte sie ihre Farbe im Gesicht wiederbekommen. Sie war gerührt über unsere Zärtlichkeit zueinander. Ich weiss nicht, was sie in meinen Augen las, aber sie nickte mir leicht zu. Auch ihr gab ich einen Kuss und ging dann aus der Wohnung. Ich wollte einen langen Spaziergang machen, um mir über vieles klarzuwerden.

Es wurde ein ziemlich weiter Weg. Ich dachte an Christiane, an unsere Begegnung, an unsere glückliche Beziehung, die nicht nur auf Sex aufgebaut war sondern auf tiefen Gefühlen unserer Liebe zueinander, Verständnis und Vertrauen. Mir wurde klar, dass Sex nicht das Wichtigste im Leben war und ich sie auch ohne oder wenig Sex liebte. Es wäre zwar schade, aber Hauptsache wir waren zusammen und hatten uns beide und ich war mir jetzt ganz sicher, dass sie es genauso empfand. Ich wusste, wie sehr sie sich wünschte, in dem gewissen Bereich auch körperlich endlich eine Frau zu sein. Ich hatte kein Recht aus sexuellen Motiven oder Ängsten heraus ihr von einer Operation abzuraten. Außerdem, was würde mir schon fehlen. Ihr Glied? Bestimmt nicht. Ich war nicht schwul. Ich bekam doch eine glücklichere Frau dafür. In den ganzen Wochen zuvor hatte ich doch nur einen Gedanken, bei allen Zweifeln. Ich wollte, dass sie glücklich ist. Glücklich mit mir. Glücklich mit sich selbst. Ich atmete befreit auf. Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte.

Nach eineinhalb Stunden wurde ich allmählich unruhig. Aber es war warm und ich setzte mich auf eine Bank. Eine Mutter mit ihrem Kind kam langsam vorbei, es war vielleicht drei oder vier Jahre alt. Es war ein Mädchen, es blieb vor mir stehen, sah mich erst an, lächelte mir dann zu und warf mir ihr Buddelschippchen vor die Füsse. Ich hob es auf, hielt es ihr hin und lächelte der Frau zu. Sie schien meinen etwas traurigen Blick zu bemerken, denn auch sie lächelte mich freundlich an und ich fragte das Mädchen, "Wie heisst Du denn?".

"Jenny" antwortete sie, wobei sie sich etwas verlegen hin und her drehte und ihren Kopf schief hielt.

"Und wie alt bist Du, Jenny?", fragte ich mit leiser, weicher Stimme weiter. Sie antwortete nicht, hielt aber ihre Hand hoch und wusste wohl nicht, wieviele Fingerchen sie zeigen sollte. Dann blickte sie hilfesuchend zu ihrer Mutter auf.

"Drei Jahre?" fragte ich die Mutter und sie nickte, immer noch lächelnd. "Hier Jenny", sagte ich.

Sie nahm das Buddelschippchen und sah mich mit grossen, blauen Augen an. Dann lachte sie mich an. Ihre Mutter machte keine Anstalten, es zu verhindern, als ich Jenny zart über's blonde Haar strich und seufzte. Mir war ganz warm um's Herz. Vielleicht hatte auch sie diese Stimmung sentimental gemacht, obwohl sie ja nicht wusste, was mit mir los war.

Zu der Frau gewandt sagte ich leise, "Wissen Sie auch, was für ein Glück Sie haben?"

Sie lächelte wieder, nickte und sagte ebenso leise, "Ich weiss es."

Ich erhob mich von der Bank, "Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute. Passen sie gut auf Ihren blonden Engel auf. Auf Wiedersehen."

"Ihnen auch alles Gute. Auf Wiedersehen."

In entgegengesetzter Richtung lief ich weiter. Immer wieder sah ich mich um und hatte Tränen in den Augen. Ich dachte, ich wusste jetzt auch was ich wollte, was ich mir wünschte. Endlich, nach zweieinhalb Stunden klingelte mein Handy.

"Ich komme", sagte ich mit zitternder Stimme.

Als ich in unsere Wohnung zurückkam, sah ich zwei verweinte aber auch unendlich erleichterte Gesichter. Ich nahm sie beide in den Arm und küsste sie beide, Christiane aber unendlich zärtlicher. Wieder einmal wollte ich nichts anderes als sie beschützen, vor was auch immer. Ich sah sie beide fragend an.

"Weißt Du, dass Du eine unglaubliche Frau hast mein Sohn?", fragte meine Mutter und ich sah, wie sich bei ihr schon wieder eine Träne ihren Weg bahnte. Alleine durch ihre Bemerkung rollten mir jetzt ein paar Tränen über die Wange, ich schluckte und sagte leise, "Ich weiss es Mama, glaub mir, ich weiss es".

Sie sprachen jetzt nicht mehr über das Thema und ich fragte nicht weiter nach. Christiane würde mir schon erzählen, ob und wie sie sich entschieden hatte. Der weitere Abend verlief sehr harmonisch. Bevor ich meine Mutter nach Hause brachte, nahm sie sehr herzlich Christiane in den Arm, strich ihr über die Wange und sagte zu ihr, "Ihr werdet das Richtige entscheiden. Ihr habt es verdient glücklich zu sein".

Als ich meine Mutter nach Hause fuhr, war sie eine Weile sehr still bevor sie sagte, "Ich habe heute eine Menge über das Leben gelernt, und das in meinem Alter. Ich begreife immer noch nicht, wie ihr beiden bis jetzt damit fertig geworden seid und was das arme Mädchen im Leben alles durchmachen musste. Ich wünsche mir von Herzen, dass alles gut wird und dass ihr glücklich werdet".

"Wir sind glücklich, Mama. Hättest Du es akzeptiert, wenn Du es von Anfang an gewusst hättest?", fragte ich meine Mutter.

Sie zuckte hilflos die Schultern, "Ich weiss nicht mal, ob ich es geglaubt hätte. Sie ist eine Frau."

Zu mir gewandt sagte sie dann ganz ernst: "Wenn Du ihr jemals wehtust, wirst Du es mit mir zu tun bekommen".

"Ich habe es mir nicht ausgesucht, aber es ist nun mal so. Ich liebe sie, Mama und ich könnte ihr niemals wehtun. Ich will mein Leben mit ihr verbringen. Weißt Du, ich habe mal gelesen, dass Liebe und Sexualität nur dann echt sind, wenn man sie so lebt, wie sie tatsächlich im Herzen empfunden werden. Und ich glaube, das trifft bei uns genau so zu. Glaubst Du mir, dass es mir völlig egal ist, ob sie mal ein Mann war oder anatomisch jetzt noch zum Teil ist?"

Sie sah mich an und nickte nachdenklich.